Schellings Kipp-Punkt-Modell Heute werden wir das letzte der Modelle besprechen. Es gilt als eines der ersten agentenbasierten Modelle, jedenfalls als eines der ersten das ein gesellschaftlich relevantes Problem untersuchte. Das Modell stammt ursprünglich von Thomas Schelling, der später den Nobelpreis bekam für seine Untersuchungen zum kalten Krieg. Das Modell wurde 1972 publiziert und befasst sich mit Segregation. Man bezeichnet es auch als Schellings Kipp-Punkt-Modell, auf die Gründe komme ich noch zurück. Um zu sehen, wie das Modell funktioniert, klicken wir erst einmal auf Setup. Die Welt ist bedeckt mit roten und grünen Kästchen, diese repräsentieren Personen in den Häusern, in denen sie leben. Das soll die Muster urbanen Wohnens repräsentieren. Rot und Grün repräsentieren verschiedene Bevölkerungsgruppen, für die USA traditionellerweise schwarze und weiße Personen. Schelling wollte damit herausfinden, ob die Segregation der Bevölkerungsgruppen wirklich durch Rassismus entsteht, also dadurch, dass die Leute sich weigern in der Nähe von jemandem aus der anderen Gruppe zu leben, oder ob sie das Ergebnis vieler individueller Handlungen war. Also erstellte er ein Modell mit einer sehr einfachen Regel: solange mindestens 30% der Personen in deiner Nachbarschaft aus deiner Gruppe sind, bist du zufrieden und ziehst nicht um. Wenn es aber weniger sind, also mehr als 70% anders als du, bist du unzufrieden und ziehst um. In dem Modell sind unglückliche Personen mit X gekennzeichnet, nur diese wollen an einen anderen Ort ziehen. Der Ort, an den sie ziehen, ist einfach ein zufällig gewählter freier Platz; sie suchen nicht nach einem optimalen Ort. Schelling hat den Wert von 30% mit Bedacht gewählt: Er beschreibt eine leichte Präferenz, mit Personen aus der eigenen Gruppe zusammen zu leben; keineswegs das, was man als rassistische Einstellung bezeichnen würde, also einer Weigerung, mit anderen zusammen zu leben. Schelling wollte wissen, ob auch solch eine leichte Präferenz zu Segregation führen würde. In diesem Modell gibt es mehrere Eingangs-Parameter. Es gibt einen Regler für die Dichte (density) und einen, welcher Anteil von Personen der eigenen Gruppe in der Nachbarschaft gewünscht wird (%-similar-wanted). Hier (Perent Similar) sieht man den durchschnittlichen Anteil der eigenen Gruppe in der Nachbarschaft, gemittelt über alle Personen. Am Anfang sind die Personen zufällig verteilt, Percent Similar liegt also bei etwa 50%. Genug geredet, lassen wir das Modell laufen und sehen, was passiert. Das Setup wurde schon gemacht, also klicke ich 'go'. Nach einiger Zeit pendelt es sich ein und jetzt ist jeder zufrieden. Aber bei diesem stabilen Endzustand ist die Segregation deutlich stärker als am Anfang. Der Anteil der eigenen Gruppe an den Nachbarn (%-similar) steigt langsam an, auf etwa 76%. Schelling hat also gezeigt, dass eine leichte Präferenz der eigenen Gruppe ausreicht um Segregation zu erzeugen, dass keine rassistische Präferenz dafür nötig ist. Segregation ist also das, was er später ein Makroverhalten nannte, das aus Mikromotiven entsteht. 1978 schrieb er das Buch 'Micromotives and Macrobehavior' in dem er auch die Ergebnisse dieses Modells nochmal zusammenfasste. Noch eine Randbemerkung: Schelling hatte 1972 keine heutigen Computer zur Verfügung. Mein kleiner Laptop kann das Modell in ein paar Sekunden viele Male durchrechnen. Diesen Luxus hatte Schelling nicht. Sein Modell bestand aus einem Schachbrett und verschiedenen Münzen, die er von Hand versetzte um die Modellergebnisse zu berechnen. Das ist sehr faszinierend: normalerweise beruht agentenbasierte Modellierung auf Computern, Computersimulation, aber es geht auch ohne. Dieses agentenbasierete Modell - auch wenn Schelling es nicht als solches bezeichnete - basierte auf nichts als einigen Münzen. Ein sehr interessanter Gedanke. Ein letzter Punkt: Warum nennt man es auch Kipp-Punkt-Modell? Wenn man das Modell einige male laufen lässt, kommen immer ähnliche Muster heraus. Wenn man es langsam ablaufen lässt, kann man etwas beobachten: In vielen gemischten Nachbarschaften sind die meisten zufrieden. Dann zieht jemand bestimmtes hin, oder auch weg, und dadurch sind deutlich weniger Leute zufrieden Und nun kippt die Nachbarschaft, die vorher gemischt war, und die Gruppen trennen sich, es entsteht Segregation. Sie können auch mit den anderen Parametern des Modells herumspielen: Wenn man z.B. die Dichte (density) erhöht, wird die Segregation etwas schwächer. [stimmt das, bleibt sie nicht gleich?] Aber es ändert sich relativ wenig. Das liegt auch daran, dass sich der Anteil der Gruppen in der Nachbarschaft immer auf die Personen dort bezieht. Man kann auch verändern, wie hoch der Anteil der eigenen Gruppe mindestens sein soll (%-similar-wanted). Schon wenn man diesen Wert nur etwas senkt [ca. auf 25%], bleiben deutlich mehr gemischte Nachbarschaften erhalten. Bei deutlich höheren Werten [>50%] bekommt man ein anderes Problem: einige finden keinen Platz, an dem sie zufrieden sind und ziehen immer weiter, es bildet sich an der Grenze der völlig getrennten Wohngebiete eine unbewohnte Lücke. Ich möchte Sie ermutigen, sich diese Modelle anzusehen, mit ihnen herumzuspielen. Bei agentenbasierter Modellierung baut man Modelle selten von Grund auf neu. Dagegen lässt man sich von bestehenden Modellen inspirieren und übernimmt deren Dynamik oder andere interessante Aspekte und kombiniert sie in einem neuen Rahmen. Sich mit vorhandene Modellen auszukennen, ist also die Voraussetzung dafür, selber, für den eigenen Interessensbereich, das nächste großartige Modell zu schaffen. Daher rate ich Ihnen sehr dazu, Modelle auszuprobieren, nicht nur die drei besprochenen, sondern auch die anderen in der Models Library und alle anderen Modelle, bei denen Sie die Möglichkeit haben, sie anzusehen.