Einführung in die Komplexitätswissenschaft Was ist Komplexität? Unsere erste Kurseinheit erkundet die Frage: Was ist Komplexität? Wie wir sehen werden, fällt es schwer, die Frage präzise zu beantworten. Wir starten sehr intuitiv mit einer Reihe von Beispielen der Phänomene, die Forscher von komplexen Systemen studieren. Das wird eine Vorschau auf die Themen sein, die wir in diesem Kurs behandeln werden. Danach erstellen wir eine Liste von wichtigen Eigenschaften, die den meisten komplexen Systemen gemeinsam sind. Wir werden kurz den Begriff der Komplexität definieren - später im Kurs kommen wir wieder darauf zurück. Auch werden wir uns einen Überblick über die Kerndisziplinen, Ziele und Methoden des Forschungsgebiets "komplexe Systeme" verschaffen. An diesem Punkt sind wird bereit für den ersten einer Reihe von "Gast-Besichtigungen", d.h. ich interviewe darin bedeutende Wissenschaftler auf dem Gebiet komplexer Systeme zu Ihrer Sichtweise. Die andere Hälfte dieser Einheit konzentrierern wir uns auf "Netlogo", die Simulations- und Programmierplattform, die wir verwenden werden, um viele Konzepte hinter komplexen Systemen in diesem Kurs zu veranschaulichen. Startklar? Los geht's. Ein tolles Beispiel zu Anfang sind Ameisen. Nigel Franks, ein namhafter Ameisenforscher schrieb einmal, dass die einzelne Wanderameise im Verhalten eines der am wenigsten entwickelten Tiere ist, die man sich vorstellen kann. In extrem großer Anzahl jedoch zeigt sich ein anderes Bild. Hier beispielsweise ist eine Kolonie von Wanderameisen, die einen Tunnel bauen. Jede Ameise für sich ist sehr einfach, aber die Kolonie als Ganzes kann kooperativ zusammenarbeiten, und so sehr komplexe Aufgaben ohne zentrale Steuerung bewältigen, d.h. ohne dass eine einzelne oder eine Gruppe von Ameisen federführend wirkt. Mit anderen Worten: Ameisenkolonien können sich organisieren, um Strukturen zu schaffen, die sehr viel komplizierter sind, als es einer einzelnen Ameise möglich wäre. In diesem Beispiel bilden Ameisen mit ihren Körpern eine Brücke, so dass andere Mitglieder der Ameisenkolonie die Lücke zwischen zwei Blättern überqueren können. Dieses Video zeigt Ameisen beim Herstellen solch einer Brücke. Sie starten hier, kommen auf einen Stab, gehen den Weg bis zur Spitze, und fangen schließlich an sich miteinander zu verketten, um den ganzen Weg bis zum Boden überwinden zu können. Sie können sehen, wie sie sich mit der Zeit zur Struktur hinzufügen. Jede Ameise sondert chemische Stoffe zur Kommunikation mit den anderen Ameisen ab, und die gesamte Brücke wird ohne jegliche zentrale Steuerung gebaut. Sie können das als ein Beispiel nehmen für ein dezentralisiertes, selbstorganisiertes oder selbstgestaltendes System. Andere sozial lebenden Insekten erzeugen ähnliches Verhalten. Beispielsweise steht hier ein Exemplar dieser Art komplexer Struktur, von Termiten erbaut. Sie dient als Nest. Ein Hauptschwerpunkt in der Erforschung komplexer Systeme liegt im Verständnis, wie individuell schlichte Agenzien komplexes Verhalten erzeugen ohne zentrale Steuerung. In diesen Beispielen sind Insekten die schlichten Agenzien, aber wir werden noch viele andere Arten sehen. Ein weiteres klassisches Beispiel für ein komplexes System ist das Gehirn. Die einzelnen, einfachen Agenzien sind hier Neuronen. Das menschliche Gehirn besteht aus ca. 100 Milliarden Neuronen mit ca. 100 Billionen Verbindungen zwischen diesen Neuronen. Jedes Neuron ist relativ einfach im Vergleich zum gesamten Gehirn, und auch hier gibt es keine zentrale Steuerung. Auf irgendeine Weise führt die gewaltige Ansammlung von Neuronen und Verbindungen zu dem komplexen Verhalten, das wir Bewusstsein, Intelligenz oder sogar Kreativität nennen. Gehirnaufnahmen haben gezeigt, dass sich diese Neuronen selbst organisieren zu verschiedenen funktionale Zonen. So wie Ameisen oder Termiten, können sich Neuronen selbst organisieren zu komplexen Strukturen, die es der Spezies ermöglichen zu funktionieren und zu überleben. Ein weiteres komplexes System ist das Immunsystem. Das Immunsystem ist über den ganzen Körper verteilt, bezieht viele verschiedenen Organe mit ein wie Sie im Bild sehen, und Billionen von Zellen fließen in den Blut- und Lymphgefäßen, um den Körper von Beschädigungen und Erkrankungen zu heilen. Auf diesem Bild sind z.B. Immunzellen - hier in blauer Farbe zu sehen - die eine Kebszelle angreifen, hier im Zentrum. Wie vorhin bei den Ameisen gesehen, kommunizieren Immunzellen miteinander mithilfe von chemischen Signalen, und sie arbeiten ohne zentrale Steuerung miteinander, um koordinierte Angriffe auf das zu starten, was sie als Bedrohung für den Körper erkennen. Zusätzlich ist die Gesamtheit aller Immunzellen zusätzlich in der Lage, sich zu ändern, d.h. sich anzupassen als Reaktion auf das, was alle Zellen gemeinsam in ihrer Umgebung wahrnehmen. Diese Art der Anpassungsfähigkeit ist ein weiteres Schlüsselmerkmal für komplexe Systeme. Ein weiteres bekanntes Beispiel für ein komplexen Systems ist das menschliche Genom. Hier ist ein Bild eines menschlichen Genoms. Jedes dieser wurmähnlichen Strukturen ist ein Chromosom, und davon gibt es 23 Paare. Sie sehen, es handelt sich um einen Mann, weil ein XY-Paar vorhanden ist. Jedes dieser Chromosomen besteht aus Tausenden von Genen. Gene sind natürlich DNA-Stränge entlang des Chromosoms. Man geht aktuell davon aus, dass das menschliche Genom aus ungefähr 25.000 Genen besteht, die Proteine kodieren. Als komplexes System können Sie sich Gene als einfache Komponenten vorstellen, die auf eine dezentralisierte Art und Weise mit anderen Genen wechselwirken. Und die Art wie sie wechselwirken erfolgt über genetische Regulierungsnetzwerke. Sie kontrollieren sich untereinander ihre Genexpression, d.h. die Translation in Proteine. Hier sehen Sie ein kleines genetisches Regulationsnetzwerk, das Forscher entworfen haben. Jedes dieser Rechtecke oder Ovale repräsentiert hier ein Gen, und der Pfeil von einem Gen zum anderen bedeutet, dass das erste Gen Kontrolle hat über die Genexpression des zweiten Gens. Es hat sich herausgestellt, dass das menschliche Genom aus Tausenden dieser Netzwerke wie diesen besteht, in denen Gene untereinander auf komplizierte Art und Weise interagieren, und diese Interaktionen sind großenteils verantwortlich für unsere eigene Komplexität. Das Konzept von Netzwerken ist zentral für die Komplexitätsforschung in der Natur. Hier eine andere Art von Netzwerk - ein Nahrungsnetz. Hier stellt jeder Knoten, oder Objekt im Netzwerk eine bestimmte Artengruppe dar, und die Pfeile zeigen an, wer wen frisst. Wenn eine Artengruppe zu einer anderen zeigt, heißt das, dass die erste Futter für die zweite darstellt. Sie sehen hier zum Beispiel, dass Füchse an der Spitze dieses bestimmten Nahrungsnetzes aus Alaska stehen, da sie verschiedene Sorten von Tieren fressen, aber niemand frisst sie, zumindest nicht auf dieser Karte. Hier ist ein abstraktes Diagramm eines komplizierteren Nahrungsnetzes für den Golf von Alaska. Wenn wir später im Kurs über Netzwerke sprechen, werden wir einige sehr interessante Beispiele von dezentralisierten, selbsorganisierten Nahrungsnetzen sehen, aber auch andere Arten von Netzwerken. Die Ihnen möglicherweise bekannteste Art von Netzwerk ist das soziale Netzwerk. Hier ist ein Ausschnitt meines eigenen sozialen Netzwerks - mit mir hier. Diese Verbindungen stehen für Freundschaftsbeziehungen. Meine Freunde sind mit ihren Freunden verbunden, und so weiter und so fort. Es zeigt sich, dass soziale Netzwerke einige interessante Muster aufweisen, die ebenfalls in biologischen und technologischen Netzwerken auftauchen. Wir werden uns später im Kurs tiefer anschauen, was diese Muster sind und wie sie sich bilden. Wissenschaftler auf dem Gebiet komplexer Systeme sind sehr am Studium großflächiger sozialer Netzwerke, wie z.B. Facebook interessiert, um ihre Struktur zu verstehen, wie sie sich bilden, wie sie sich mit der Zeit ändern, und - vielleicht am interessantesten - wie Information in solchen Netzwerken übertragen wird, und weitere Fragen. Wirtschaftssysteme sind eine weitere Sorte von komplexen Systemen, in denen Netzwerke von Wechselwirkungen eine fundamentale Rolle spielen. Hier sehen wir ein Beispiel des internationalen Finanznetzwerks, wo Knoten für Finanzinstitute stehen, und Verbindungen die Beziehungen untereinander darstellen. Wenn eine Bank z.B. Anteile an einer anderen Bank hält, sind die beiden miteinander verbunden. Es zeigt sich, dass der Umfang der Verbundenheit in solch einem Netzwerk, als auch die Art von vorhandenen Verbindungen, große Auswirkungen darauf haben kann, wie stabil das Netzwerk auf Änderungen reagiert, z.B. wenn eine Bank ihr Geschäft einstellt. Der neue interdisziplinäre Bereich der Netzwerkforschung, der aus der Gemeinde der Komplexitätsforscher heraus entstand, untersucht diese Art von Phänomenen in Netzwerken aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Als letztes Beispiel schauen wir auf die Untersuchung von Städten als komplexe Systeme. Man sagt oft, dass Städte in vieler Hinsicht wie ein lebendiger Organismus erscheinen. Aber inwieweit ähneln Städte eigentlich lebendigen Organismen in der Art wie sie aufgebaut sind, anwachsen, sich mit der Größe skalieren und wie sie funktionieren? Diese und andere Fragen sind die Basis eines schnell wachsenden Bereichs der Komplexitätsforschung, den wir uns später im Kurs im Detail anschauen werden.